Gegenstand der Veranstaltung war die Vorstellung zweier aktueller noch unveröffentlichter Untersuchungen, welche gezeigt haben, dass ein guter öffentlicher Verkehr Mehrwerte bei Immobilien und darüber hinaus auch eine höhere Zahlungsbereitschaft generieren kann. Mieter und Eigentümer wären demnach bereit, dank der verkehrsgünstigen Erschliessung einen entsprechend über dem Marktpreis liegenden Zins zu bezahlen. Die anschliessende lebhafte Diskussion drehte sich sodann vor allem um die Frage, wem diese Mehrwerte gehören.

Das SBB Lab ist ein durch die Schweizerischen Bundesbahnen SBB finanziertes Forschungs- und Kompetenzzentrum an der Universität St.Gallen. An der Eröffnungstagung wiesen der Erziehungsdirektor des Kantons St.Gallen, Stephan Kölliker, und der designierte Rektor der Universität St.Gallen, Professor Thomas Bieger, auf die lange Tradition der Universität als Transferstelle zwischen Wissenschaft und Praxis hin. Hierzu gehört auch der unternehmerische Ansatz, welcher im SBB Lab einmal mehr umgesetzt wird. Der CEO der SBB, Andreas Meyer, betonte, dass mit der Arbeit des Labs die bislang eher technisch orientierte Verkehrsforschung durch Forschung im Managementbereich und verwandten Gebieten ergänzt und der öffentliche Verkehr in der Schweiz so weiterentwickelt werden soll.
Höhere Zinsen dank ÖV
Wie eine unveröffentlichte Studie der Immobilienberatungsfirma Wüest und Partner im letzten Jahr gezeigt hat, führte die Verbesserung der Erschliessung mit öffentlichem Verkehr im Zuge der Einführung von Bahn 2000 vielerorts zu höheren Immobilienwerten. Die ersten Resultate der zweiten Untersuchung des SBB Lab an der Universität St.Gallen zeigen nun darüber hinaus, dass eine gute Erschliessung insbesondere mit öffentlichem Fernverkehr eine über die Wohnkosten hinaus gehende Zahlungsbereitschaft in Höhe von knapp 100 Franken pro Monat generiert. Beide Studien bestätigen damit erstmals für die flächendeckend mit dem öffentlichen Verkehr erschlossene Schweiz die Resultate von internationalen Untersuchungen.
ÖV als Bestimmungsfaktor der Gemeindeentwicklung
Wie Hervé Froidevaux von Wüest und Partner ausführte, hat insbesondere eine deutliche Verbesserung des Bahnangebotes eine Wirkung auf die Gemeindeentwicklung im Wohnbereich. Die Bandbreiten der Bevölkerungsentwicklung liegen zwischen 4.3% (bei Gemeinden mit einem deutlich verbesserten Angebot) versus 2.1 % (bei Gemeinden mit einem nicht oder kaum verbesserten Angebot). Es zeigt sich allerdings auch, dass diese Wirkung nicht bei allen Gemeinden und Gemeindetypen festzustellen ist. Insbesondere Orte mit grundsätzlich tiefer Attraktivität, wo also verschiedene Standortfaktoren nicht optimal sind, reagieren weniger auf die Angebotsverbesserung des ÖV.
ÖV als Wohnfaktor
Vorläufige Erkenntnisse der zweiten Untersuchung des SBB Labs zeigen, dass im schweizerischen Mittel die monatliche Zahlungsbereitschaft für einen bestehenden Wohnraum gegenwärtig etwa 400 Franken höher ist als der Marktpreis. Diese Zahlungsbereitschaft ist dann vergleichsweise hoch, wenn Leute insbesondere mit folgenden Wohnfaktoren zufrieden sind: Grünflächen, Komfort und Grösse von Küche und Bad, Parkplatz, Kinderfreundlichkeit von Wohnraum und Quartier sowie Verhältnis zu Nachbarn. Auch die Zufriedenheit mit der Erschliessung mit öffentlichem Verkehr bleibt nicht ohne Effekt. Laut dem Verfasser der Studie, Christian Laesser, schlägt sich die wahrgenommene Qualität der Naherschliessung direkt im Marktpreis von Wohnraum nieder. Eine aus Sicht des Kunden zufriedenstellende Erschliessung mit Fernverkehr (Intercity-, Interregio- und RegioExpress-Züge) generiere jedoch eine über den Marktpreis hinausgehende Zahlungsbereitschaft von knapp 100 Franken pro Wohneinheit. Pendler des Fernverkehrs wären sogar bereit, für eine aus ihrer Sicht gut erschlossene Wohnlage monatlich ca. 1'500 Franken mehr auszugeben als nicht zufriedene Leute.
Rolle der Verkehrserschliessung im städtischen Kontext
So versuchen denn auch viele Gemeinden ihren Raum mittels einer engen Vernetzung zur gesamten Schweiz und dem nahen Ausland 'in Wert' zu setzen. Wie der Stadtpräsident St.Gallens, Thomas Scheitlin hinwies, gehören hierzu neben einer optimalen Nah- und Fernverkehrserschliessung aber auch die Aufwertung als Wirtschaft- und Wohnstandort durch ausreichende Kapazitäten und Baulandreserven und qualitativ hochwertige Infrastrukturangebote.
Wem gehört der Mehrwert?
Durch ÖV induzierte Mehrwerte kommen nicht dem ÖV-Anbieter sondern letztlich den Liegenschaftenbesitzern über höhere Marktpreise und Bewohnern über deren höhere Zahlungsbereitschaft zugute. Wie Christian Laesser in seiner Präsentation ausführte, wäre also eine Diskussion um eine angepasste Verteilung von Kosten und Nutzen der Öffentlichen Verkehrserschliessung durchaus angebracht.
Das angeregte Gespräch im Anschluss an die Referate zeigte denn auch, wie kontrovers dieses Thema diskutiert werden kann. Obwohl die positive Wirkung der öffentlichen Verkehrserschliessung auf die Bevölkerungsentwicklung nachgewiesen werden kann, gilt dies nicht gleichermassen für unternehmerische Aktivitäten. Um Firmenansiedelungen zu forcieren, bedarf es eines Zusammenspiels verschiedener weiterer Kriterien wie qualifizierte Mitarbeiter in genügender Anzahl oder ein attraktives Steuerumfeld. Unbestritten ist allerdings, dass eine gute Erschliessung dazu beiträgt, um als attraktiver Wirtschaftsstandort zu gelten.
Des weiteren stand die Frage im Raum, wie ein qualitativ hochwertiger ÖV auf lange Sicht bezahlt werden kann. Die Umwälzung der Verkehrserschliessungskosten auf die Kunden kann laut einhelliger Meinung der Podiumsteilnehmer keine alleinige Lösung sein. Die Bereitschaft öffentlicher Gebietskörperschaften (bspw. Gemeinden) sich an den Kosten zu beteiligen wächst, da eine gute öffentliche Verkehrserschliessung oft ausdrücklicher Bestandteil ihrer Entwicklungstrategie ist. Insgesamt profitieren sowohl grosse als auch kleine Zentren vom öffentlichen Verkehr.